Einsamkeit ist ein relativ tiefgehendes Thema & ein vielschichtiges Phänomen. Wenn man sich diesem zuwenden will, gilt es, sowohl psychologische und emotionale als auch spirituelle Dimensionen zu betrachten. Um an die Wurzel zu gelangen, muss man die Natur des Menschen, sein jeweiliges Selbstbild und den Grad der individuellen Bewusstheit genau durchleuchten.
Fundamentale Trennung als Ursprung
Als relativ tiefgehend beschreibe ich es deshalb, da es nur innerhalb der Identifikation mit einem individuellen Ich wirklich tief sein kann. Innerhalb der Illusion. Aus Sicht des zu sich selbst erwachten Seins ist die Ursache klar zu sehen. Die Wurzel liegt in der Erfahrung der Getrenntheit und an der Anhaftung an diese Erfahrung. Um innere Sicherheit, in Form von innerem Halt & Orientierung, zu erlangen. Mit der Geburt wird das Bewusstsein an einen individuellen Körper gebunden und erlebt sich erstmals in Trennung & Begrenzung. Hinzukommend beginnt das „Ich“ sich ab dem 2. – 3. Monat nach der Geburt zu entwickeln. Es entwickelt sich durch die erstmaligen Erfahrungen der offensichtlichen Grenzen des eigenen Körpers noch ganz subtil. Dem hinzukommend, macht es auch die ersten (psychosomatischen) Erfahrungen innerer Grenzen: „Ich bin hier, alles andere ist dort.“ Diese Trennung ist der erste Keim der Einsamkeit. Wenn die Frage aufkommt: „Wie kann ich das meinem Kind oder meinen Kindern ersparen?“, ist die Antwort: Gar nicht. Es ist der normale & gewollte Weg des Bewusstseins. Denn nur so ist es gegeben, dass sich die Vielfalt des Lebens frei entwickeln kann und sich das eine Bewusstsein in unendlicher Vielfalt überhaupt entdecken und erfahren kann. Die Tragik oder das mögliche Erleben dieser, entsteht immer nur innerhalb der Identifikation mit dem individuellen „Ich“.
Das wahre individuelle Leben kann erst dann in seiner Gänze gelebt werden, wenn die Individuation >>in sich<< zu dem wahren Sein erwacht ist.
Dieses Gefühl der Trennung ist der Treibstoff für alle menschlichen Bestrebungen – nach Liebe, Erfolg & Anerkennung.
Die Illusion des Ichs und die Suche nach Ganzheit
Das Ego ist nichts anderes als eine Konstruktion aus Gedanken, Erinnerungen und Konditionierungen. Aus diesem „Gedankenapparat“ heraus entsteht ein Selbstläufer. Verzweigungen und Stränge von Gedankengebilden entstehen und mit ihnen eine unvorstellbare Vielzahl an Vorstellungen. Das führt sich weiter, bis ins Unendliche.
Es existiert nur innerhalb seiner Geschichte(n) und erschafft durch das Erfahren von Trennung das Gefühl von Mangel – davon, dass „etwas fehlt“.
Einsamkeit entsteht allein aus der realen Illusion, ein isoliertes, unabhängiges Wesen zu sein, das sich von einer größeren Ganzheit abgeschnitten fühlt. Dieses Gefühl der Trennung, ist der Treibstoff für alle menschlichen Bestrebungen – nach Liebe, Erfolg, Anerkennung oder Selbstverwirklichung. Und solange das Ego das Zepter hält, bleibt immer ein Mangelgefühl bestehen, weil es niemals am Ziel ist & niemals am Ziel ankommen kann. Es wird immer „etwas“ fehlen. Und es gilt, diesem ominösen Etwas zu folgen. Um herauszufinden, was diese tieferliegende Sehnsucht wirklich ist. Sie ist die Sehnsucht, sich selbst zu erkennen. Das geht weit über das Ego, aber auch über die Welt selbst hinaus.
Die Leere hinter dem Ego ist nicht feindlich. In Wahrheit ist genau sie und nur sie allein die Öffnung zum wahren Selbst.
Die Angst vor dem eigenen Inneren
Einsamkeit kann als ein Tor zum Innersten dienen, zum wahren Kern. Doch 95 Prozent der Menschen, der Menschheit, fliehen davor. Sie lenken sich ab mit Arbeit, Beziehungen, Konsum, Unterhaltung oder Beschäftigung(en), um ja nicht mit der Stille in Berührung zu kommen. Warum? Weil in dieser Stille die Wahrheit wartet: die Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit, mit ungelösten Ängsten, mit der Leere hinter dem Ego.
Doch diese Leere ist nicht feindlich – sie ist in Wahrheit die Öffnung in das wahre Sein, die wahre Natur.
Die Rolle von Konditionierung und Gesellschaft
Die moderne Gesellschaft verstärkt durch ihre kollektive Unbewusstheit die Illusion der Trennung umso mehr. Soziale Medien, Vergleiche, Leistungsdruck – all das verstärkt das Gefühl, nicht genug zu sein, nicht dazuzugehören. In der Tiefe sehnt sich jeder Mensch nach Verbindung, doch wenn man in einer Welt lebt, die Individualismus über alles stellt, fühlt man sich oft entfremdet, selbst inmitten von Menschen & Gesellschaft. Doch das muss nicht zwangsläufig in einer tiefen Depression enden. Im Gegenteil. Es kann ein wertvoller Anker sein, um bewusst zu werden. Um bewusst innezuhalten. Um zu erkennen, dass etwas nicht stimmt. Nicht stimmen kann. Und um sich dieser Empfindung dann hinzugeben …
Die spirituelle Perspektive: Einsamkeit als Ruf nach Rückkehr
Von einem höheren Standpunkt aus gesehen, jedoch ohne die Attribute „Besser & Schlechter“, ist Einsamkeit kein Problem, sondern eine Einladung. Denn sie ruft den Menschen dazu auf, sich über das Ego hinaus auszudehnen und zu erkennen: „Ich bin nicht dieser einzelne Tropfen – ich bin der ganze Ozean.“ Oder durch Rumi perfekt auf den Punkt gebracht:
„Du bist kein Tropfen im Ozean, du bist der gesamte Ozean – in einem Tropfen.“
Wenn die Identifikation mit dem begrenzten Selbst immer mehr nachlässt, wird die Einsamkeit zur Stille, welche sich nicht mehr länger bedrohlich anfühlt, sondern als pure Existenz & das reine Leben erkannt wird.
Der Weg hinaus: Hingabe und Rückkehr in die Einheit
Die Transformation der Einsamkeit geschieht nicht durch äußere Ablenkung oder erzwungene soziale Interaktion, sondern durch tiefe Hingabe. Hingabe an das, was ist. Wenn man sich vollständig öffnet für die Einsamkeit, ohne Widerstand, wird sie sich in einem aufbäumen, sich gänzlich entfalten und sich dann beginnen aufzulösen. Danach erfährst du Stille und Frieden. Du erkennst, dass es nie eine wirkliche Trennung gab. Dass es nur ein Irrtum des Geistes war.
Einsamkeit ist schlussendlich Illusion
Einsamkeit ist letztlich eine Illusion, geboren aus der Identifikation mit einem begrenzten „Ich“. Innerhalb des Unbewussten kann sie als Leiden erfahren werden oder als Einladung, sich dem wahren Sein zuzuwenden. Wenn du zulässt, dass sie durch dich hindurchgeht, entdeckst du, dass wahre Verbundenheit nicht im Außen liegt, sondern innerhalb deiner wahren Natur. Dass man nie wirklich getrennt war.
– Namaste